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Rückblick Spielzeit 2009 / 2010
Gelungene Experimente in schwierigen Zeiten
Gesellschaftliche Krisen galten schon immer als
Nährboden für gute Kunst. Ein Rückblick auf die Spielzeit 2009 - 2010
scheint diesen Zusammenhang erneut zu bewahrheiten. Zumindest haben
Krisenthemen für viele spannende Inszenierungen und gelungenen Experimente gesorgt.
Ausgezeichnetes Krisentheater
Beim Berliner Theatertreffen 2010 wurde die Tendenz zum erfolgreichen
Krisentheater schon nach dem ersten Blick auf die Programmliste klar.
Von den zehn eingeladenen Inszenierungen beschäftigten sich sieben auf
direkte Weise mit gesellschaftlichen Krisenphänomenen. Dazu gehörte auch
die Romanadaption von Falladas "Kleiner Mann - was nun?" der Münchner Kammerspiele,
eine Geschichte aus der Weltwirtschaftskrise der Zwanziger Jahre, die Dank
ihrer Hauptdarsteller hochaktuell wirkte. Für ihre künstlerische Leistungen
bekamen Paul Herwig und Annette Paulmann den Titel "bester Schauspieler".
"Der goldene Drache" von Roland Schimmelpfennig verarbeitet dagegen ein
hochaktuelles Krisenthema, Ausbeutung und Gier in Zeiten der Globalisierung
werden über die Geschichte einer chinesischen Imbiss-Bude erzählt. Die "Kontrakte des Kaufmanns"
von Elfriede Jelinek rechnen dagegen in messerscharfer Sprachkunst mit den Akteuren
der Finanzindustrie ab. In "Liebe und Geld" von Dennis Kelly wird die Entmenschlichung
in einer vom Konsum beherrschten Welt vorgeführt. Die bewusste Auswahl zeitgenössischer
Dramatik wurde prompt von einem verjüngten Publikumsstrom belohnt.
2010 nutzte das Berliner Theatertreffen zudem die neueste Lieblings-Präsentationsform
aus der Fußballszene - im Sony-Center am Potsdamer Platz gab es zum ersten Mal Public
Viewing in den Theatersaal. Die Live-Übertragungen der Aufführungen wurden besonders
von jungen Leuten gut besucht.
Und hier finden Sie noch einmal die Auswahl des Berliner Theatertreffens 2010
http://www.berlinerfestspiele.de
Gelungene Experimente
Dass Gesellschaftsdramen nicht zwangsläufig bierernst
inszeniert sein müssen auch das hat das Berliner
Theatertreffen eindeutig bewiesen. In "Riesenbutzbach" hat
Christoph Martaler die Begleiterscheinungen und Folgen der
Finanzkrise auf urkomische Weise auf die Bühne gebracht.
Noch nie, so meinten die Kritiker, habe ein Theater-Experiment
von Martaler sich so nah an der Realität bewegt.
Ein viel diskutiertes Experiment war auch das Stück
"Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" der
Kölner Intendantin Karin Baier. Das Stück wurde nicht
nur zum Theatertreffen eingeladen, sondern auch von "Theater heute"
zur Inszenierung des Jahres gekürt. Die Kölner Produktion
greift den Voyeurismus im Fernsehen auf. Das Publikum schaut in
Container, die auf der Bühne stehen und sieht den Bewohnern beim
Ausfechten privater Kleinkriege zu. Der Stoff ist aber nicht, wie im
Fernsehen, aus peinlichen Allerweltsproblemen schambefreiter Privatleute
gemacht, sondern stammt aus der Vorlage des gleichnamigen Films von Ettore Scola.
http://www.schauspielkoeln.de
Vom Abriss des Jahres zum Theater des Jahres
Die Theaterlandschaft Deutschlands war aber auch ganz direkt
von der Finanzkrise betroffen, fast überall kam es zu
Etat-Kürzungen. In Köln sollte das Schauspiel sogar
ganz geschlossen werden. Allerdings mit dem Vorhaben, die
Spielstätte dicht zu machen, um einen modernen Theaterbau
zu errichten. Ein scheinbar widersinniges Unterfangen in Krisenzeiten.
Das Kölner Publikum machte deutlich, dass es sein Theater dringend
braucht und auch für eine vorübergehende Zeit nicht
darauf verzichten will. Die Massenproteste wurden erhört,
das Kölner Schauspielhaus blieb offen und Karin Baier brachte
als Intendantin neuen Schwung hinein. Gleich zwei Inszenierungen aus
Köln wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen und die Kritiker
feierten das Haus schließlich als "Theater des Jahres". Ein Triumph,
der die Kölner Schließungspläne ad absurdum führen sollte.
Gewagte Stücke und viele beste Schauspieler in der Jahresbilanz 2010
In ihrer jährlichen Umfrage unter mehr als 40 Theaterkritikern
konnte die Fachzeitschrift "Theater heute" wieder einige Besten-Titel
vergeben. Die Titel "Inszenierung des Jahres" und "Theater des Jahres"
gingen wie bereits erwähnt nach Köln. Mutiges und
experimentierfreudiges Theater setzte sich auch in den anderen Kategorien durch.
"Bühnenbildner des Jahres" wurde Andreas Kriegenburg, der am
Deutschen Theater das Kleist-Drama "Der Prinz von Homburg" ganz in
Rot spielen ließ. Multi-Talent Kriegenburg kam außerdem
mit nur einer Stimme weniger auf den zweiten Platz in der Kategorie
beste Inszenierung mit seiner Regie-Arbeit zu Dea Lohers neuem
Stück "Diebe". Hier wird die Struktur des herkömmlichen
Theaterstückes gesprengt, der Theaterabend ein Kaleidoskop der
menschlichen Schwächen.
Der bereits erwähnte "Goldene Drache" von Roland Schimmelpfennig
wurde mit großer Mehrheit zum Stück des Jahres gewählt.
Bestes ausländisches Stück wurde "Life and Times - Episode 1",
ein ausgesprochenes Theaterexperiment. Textgrundlage ist das Protokoll
eines Dauertelefonats, inszeniert vom Nature Theatre of
Oklahoma an der Wiener Burg.
Wegen Punktgleichheit wurden gleich sechs Schauspieler zu den Besten
des Jahres gekürt, ein schöner Beweis, dass sich herausragende
künstlerische Qualität durch alle Häuser zieht.
Fabian Hinrichs von der Berliner Volksbühne und Paul Herwig von den
Berliner Kammerspielen teilen sich den Titel "Bester Schauspieler".
"Beste Schauspielerinnen 2010" sind Annette Paulmann ebenfalls an den
Münchner Kammerspielen, Sandra Hüller am Schauspiel Hannover,
Claudia Bauers an der Berliner Volksbühne und als Dienstälteste
dieser Kategorie: Margit Bendokat am Deutschen Theater.
Um den Zuwachs an interessanten Theaterautoren braucht man sich auch keine
Sorgen machen. Der Titel "Nachwuchsautor des Jahres" ging an den 1981
geborenen Nis-Momme Stockmann, der bereits mit seinem ersten Stück
"Der Mann der die Welt aß" für Aufsehen sorgte.
Theaterfans können sich über alle Preisträger und
nachfolgenden Plätze ausführlich im Jahrbuch 2010 der Zeitschrift
"Theater heute" informieren.
http://www.theaterheute.de
Christoph Schlingensief - der Künstler ist tot, die Arbeit geht weiter
Schon in der vorherigen Spielzeit hatte Christoph Schlingensief
seine Krebserkrankung zum öffentlichen Theaterthema gemacht und
mit seiner Inszenierung "Kirche der Angst" Aufsehen erregt. Bis kurz vor
seinen Tod im August 2010 hat er diese öffentliche Auseinandersetzung
fortgesetzt. Letzte Arbeiten wie die Opernregie "Metanoia" wurden posthum
aufgeführt. Auch sein Werben für ein Festspielhaus in Afrika geht weiter.
Die Theaterarbeiten und Selbst-Inszenierungen des ebenso berühmten
wie umstrittenen Theatermachers kann man sich im Internet anschauen.
http://www.schlingensief.com
Opernhighlights 2010
Auch die Musikwelt hat Bilanz gezogen. In ihrer Jahresumfrage
für 2010 hat die Fachzeitschrift "Opernwelt" die Besten
des Musiktheaters im deutschsprachigen Raum gekürt.
"Opernhaus des Jahres" wurde die Oper Basel, die damit ihren
Titel von 2009 verteidigen konnte. Gewürdigt wurde die
Kontinuität des Hauses und der positive Dialog zum
Publikum und zwischen den Sparten, wie er von Intendant Dietmar
Schwarz gepflegt wird. Auf Platz Zwei der besten Opernhäuser
steht die Frankfurter Oper, die mit dem Frankfurter Opern- und
Museumsorchester außerdem das "Orchester des Jahres" beheimatet.
Der Titel "Inszenierung des Jahres" ging nach Brüssel für
die Oper "Macbeth". "Opernregisseur des Jahres" wurde Stefan Herheim,
der mit seiner Bayreuther Parsifal-Inszenierung im Jahr 2009 bereits
den Titel Inszenierung des Jahres nach Hause geholt hatte. Herheim wird
auch 2011 wieder den Parsifal in Bayreuth inszenieren.
Als "Ärgernis des Jahres" wurde die Kulturpolitik der Stadt
München gegeißelt, die sich durch ihren rüden Umgang
mit den Star-Dirigenten Kent Nagano und Christian Thielemann blamierte.
Für Opernfans, die auch außerhalb des Theaters nicht auf
großartige Hörerlebnisse verzichten wollen, wird alljährlich
die "CD des Jahres" gekürt. Dieser Titel ging 2010 an die italienische
Sängerin Cecilia Bartoli und ihre CD "Sacrificium", eine Sammlung
von Arien, die ursprünglich für Kastraten geschrieben wurden.
Ausführliche Würdigungen der größten Leistungen
innerhalb der Opernwelt in der Spielzeit 2009/2010 kann man im "Jahrbuch 2010"
der Zeitschrift "Opernwelt" nachlesen.
Bestellungen sind über diesen Link möglich:
http://www.kultiversum.de
Große und leise Töne in Bregenz
Die Bregenzer Festspiele waren auch 2010 wieder ein Highlight
für Opernfans und solche, die es werden könnten. Die
spektakuläre Aufführung von Verdis "Aida" auf der
Bregenzer Seebühne übersteigt sämtliche Maßstäbe,
die an herkömmlichen Opernspielplätzen möglich wären.
Gigantische Kulissen und Lichtshows, dazu das einzigartige Open-Air-Ambiente
und hochkarätige Künstler sorgten für einen unvergesslichen Abend.
Neben der prunkvollen Klassiker-Inszenierung waren die Festspiele aber
auch wieder eine Werkschau der modernen Oper. Die diesjährigen
Uraufführungen beschäftigten sich in der Reihe "Kunst aus der Zeit"
mit Stoffen aus der deutschen Vergangenheit und thematisierten den Holocaust
über individuelle Erfahrungen ihrer Protagonisten. Auch im Jahr 2011
wird es die Bregenzer Festspiele wieder geben.
http://www.br-online.de
http://www.bregenzerfestspiele.com/de/
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