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Rückblick Spielzeit 2006 / 2007
Skandalöser Jahresanfang in Frankfurt - Das Stoffhuhn Ingo oder die Spiralblock-Affäre
Der Theaterskandal im Februar begann mit einem Stoffhuhn.
Das Schauspiel-Ensemble des "Großen Massakerspiels"
von Ionesco hatte es auf den Namen Ingo getauft. Als Schauspieler
Thomas Lawinky, vom Regisseur zum interaktiven Publikumsspiel
angehalten, das Huhn einem Dauernörgler in der ersten Reihe
auf den Schoß legte, ahnte er noch nicht, daß
sich bald die ganze Welt darüber aufregen würde.
Der Nörgler kommentierte das Huhn mit den Worten:
"Das kommt vom vielen Vögeln".
Lawinky, um eine Reaktion nicht verlegen, nahm ihm einen
Spiralblock aus der Hand und brachte nun auch die schriftlichen
Kommentare zu Gehör, angeblich nicht wissend, daß
es sich um Starkritiker Stadelmeier persönlich handelte.
Als der entrüstet floh, schrie Lawinky ihm "Arschloch,
verpiß dich" hinterher. Eigentlich eine Szene, die
nahtlos in das Konzept des "Massakerspiels" paßte.
Doch der brüskierte FAZ-Kritiker beschimpfte tags darauf
die Aufführung als "Ekeltheater". Dem Schauspieler warf er
Freiheitsberaubung und Nötigung vor. Lawinky wurde entlassen.
Die Skandalwellen schlugen bis zur BBC, wo aus dem Huhn Ingo ein
toter Schwan wurde, mit dem man arglose Bürger in deutschen
Theatern bewarf. Ionescos "Massakerspiel" mußte abgesetzt
werden. Dafür gibt es jetzt "Being Lawinky" am Frankfurter
Theater und der Schauspieler ist berühmter denn je.
"Der Kick" - bittere Realität auf Bühne und Leinwand
Ebenfalls nicht zimperlich mit den Schrecken der
Realität hat sich Regisseur Andreas Veiel gezeigt.
Doch hat sein Theaterprojekt "Der Kick" nicht die hemmungslose
Wiederholung des Grauens im Sinn, sondern setzt die Mittel des
Theaters als Erkundungsmöglichkeit ein, um Licht in die
dunklen Flecken von Mißbrauch und Gewalt zu bringen.
"Der Kick" wurde zur Dokumentation, Sozialforschung und
psychologischen Analyse eines realen Verbrechens. Im Zentrum
steht die Mißhandlung und Tötung eines 16-Jährigen
durch drei Gleichaltrige in einem Dorf in Deutschland. Der Regisseur
und sein Ensemble haben sich in Interviews den Tätern,
Dorfbewohnern und Angehörigen genähert. In ihrem
Theaterstück wird die "unsägliche Tat" zur Sprache
gebracht, das Monströse als konkretes Geschehen erforscht,
das durch das Zusammenspiel vieler Faktoren zur Katastrophe führte.
In Basel und Berlin uraufgeführt, erhielt das Stück bereits
zahlreiche Auszeichnungen. Besonders ungewöhnlich für die
Geschichte eines Theaterstückes ist nun die prompte Verfilmung
fürs Kino, besetzt mit denselben Schauspielern.
Ausgezeichnete Altmeister in Berlin
Beim Berliner Theatertreffen standen zwei Altmeister
des deutschen Regie-Theaters als Kandidaten für die beste
Inszenierung nebeneinander. Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff,
beide 62-jährig präsentierten sich mit Theater-Klassikern.
Goschs Düsseldorfer "Macbeth"-Inszenierung überzeugte davon,
daß selbst sogenanntes "Ekeltheater" das Publikum begeistern kann.
Kritiker feierten die Aufführung sogar mit der Bezeichnung "Testosteron-Spektakel".
Am Ende siegte jedoch Dimiter Gotscheff mit dem Tschechow-Klassiker "Iwanow".
Das Stück wurde als "ästhetisch berauschendes Spiel von atemberaubender
Aktualität" gelobt.
Auch der Theaterpreis ging in diesem Jahr an eine Regisseurin.
Andrea Breth, geb. 1952, die zur Zeit am Wiener Burgtheater inszeniert,
hat maßgeblich die Entwicklung der Berliner Schaubühne mitgeprägt.
Gläserne Oper am Bodensee
Erstmals wurden die Bregenzer Opernfestspiele in der
Glasarchitektur des neuen Festspielhauses eröffnet.
Gläsern war auch das Bühnenbild für die späte
Uraufführung der Debussy-Oper "Der Untergang des Hauses Usher"
nach einer Erzählung von Edgar Allen Poe. Der allmähliche,
gespenstische Untergang einer Familie, erdacht vom Meister des Grauens
persönlich, wurde in Bregenz in eine der modernsten Operninszenierungen
der deutschsprachigen Theaterlandschaft umgesetzt.
Atemberaubend zeitgemäß war auch das diesjährige Opernereignis
auf der weltberühmten Seebühne. Die Kulissen einer Bohrinsel
verwandelten Verdis "Troubadour" in ein hochaktuelles Politdrama.
Interpretiert von einer grandiosen Besetzung wurde das Spektakel allabendlich
von knapp 7.000 Besuchern bejubelt.
Highlights aus der Spielzeit 2006 / 2007
Die Programmankündigungen der Theater für 2006/2007
versprechen eine spannende Spielzeit auf Deutschlands Bühnen.
Anspruchsvolle Klassiker, neue Autoren, Cross-Over-Experimente
und noch einige Überraschungen könnten dafür
sorgen, daß auch der letzte Theatermuffel allmählich
neugierig wird.
Gespannt darf man auf die Operninszenierung von
Frank Castorf an der
Berliner Volksbühne
sein. Ausgerechnet Wagners "Meistersinger" will der Skandal-Regisseur
inszenieren. Schon jetzt rätseln die Medien, wie die grotesk-radikale
Volksbühne den pathetischen Wagner interpretieren wird.
(Premierentermin: 21.9.2006)
Zunehmend sprechen Deutschlands Bühnen die gesamte Familie an.
Käpt'n Blaubär - seit seiner Erfindung bei jung und
alt beliebt, wird nun mit der Geschichte seiner 13 ½ Leben zum
Musical-Star. Ein musikalischer Mix von Shanty bis Punk soll die
phantasiereichen Episoden aus der Feder von Bestsellerautor Walter
Moers begleiten. Premiere ist im Oktober im ureigenen
Blaubär-Musical-Palast in Köln
.
Märchenhaft schön verspricht auch die folgende
Uraufführung zu werden: Die koreanische Komponistin
Unsuk Chin hat nach dem weltberühmten Buch
"Alice in Wonderland" eine Oper geschrieben. Die Weltpremiere in
München
könnte Auftakt für die Erfolgsgeschichte einer modernen Oper sein.
(Termin: 30.6.2007)
Neben diesen großen Besuchermagneten bringen die Theaterhäuser
von Hamburg bis München spannende Stücke von neuen oder
wieder entdeckten Autoren auf die Bühne. Bei der innovativen
Stückauswahl stehen Düsseldorf und Bochum wie immer ganz vorn.
Auch das
Maxim Gorki Theater Berlin
hat einen zeitgemäßen und politisch brisanten Spielplan.
Hier wird die Spielzeit gleich mit einem großen Spektakel eröffnet.
So bekommt man vom ersten Tag an Lust auf mehr Theater.
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